VIATOR 4:
BEREIT FÜR EINEN SPAZIERGANG (2020)
"(...) Selbst auf den kürzesten Weg sollten wir uns vielleicht in der Erwartung begeben, ein unsterbliches Abenteuer vor uns zu haben, von dem wir niemals zurückzukehren werden, - und darauf vorbereitet, unsere einbalsamierten Herzen als unsere Überreste in unsere verlassenen Königreiche zurückzuschicken. Wenn du bereit bist, Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Frau und Kind und Freunde zu verlassen und sie nie wieder zu sehen, wenn du deine Schulden bezahlt und dein Testament gemacht und all deine Angelegenheiten geregelt hast und ein freier Mann bist; dann bist du bereit für einen Spaziergang.
(...)
Ich denke, dass ich meine Gesundheit und meinen Geist nicht erhalten kann, wenn ich nicht mindestens vier Stunden am Tag - und gewöhnlich sind es mehr - damit verbringe, durch die Wälder und über die Hügel und Felder zu schlendern, absolut frei von allen weltlichen Verpflichtungen. (...)
Wir gehen nach Osten, um Geschichte zu erkennen und die Werke der Kunst und der Literatur zu studieren (...); wir gehen nach Westen wie in die Zukunft, mit Unternehmungsgeist und Abenteuerlust. (...)
(...) Es ist für uns nicht gleichgültig, welchen Weg wir gehen. Es gibt einen richtigen Weg; aber wir sind sehr anfällig dafür, aus Unachtsamkeit und Dummheit den falschen zu nehmen. (...)"
Henry David Thoreau, der sein ganzes Leben in Concord, Massachusetts (Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika) verbrachte, assoziiert in seinem Essay den ‚Osten‘ mit Herkunft und Geschichte, den ‚Westen‘ aber mit dem Aufbruch in eine abenteuerliche Zukunft, und er stellt diese Verbindungen her als Amerikaner und als Nachfahre europäischer Migranten, die einst - freiwillig oder notgedrungen - der ‚Alten Welt‘ den Rücken kehrten und Richtung Westen aufbrachen, um eine ‚Neue Welt‘ zu suchen.
Diese Vorstellung (die Suche einer 'Neuen Welt') wurzelte tief in den Erfahrungen, welche die auswandernden Menschen in den (noch feudalen) europäischen Gesellschaften gemacht hatten, und die oft der Hauptgrund für den Aufbruch nach Westen waren.
Einer Sache den Rücken zuzukehren kann aber auch der Ausdruck davon sein, dass man sie vergessen oder verdrängen will. Amerikaner mit europäischen Wurzeln haben oft heute noch diese Perspektive: die Vorstellung einer hellen Zukunft, die mit Aufbruch und Fortschritt in der Aussenwelt verbunden ist. Dabei kehren sie der Vergangenheit den Rücken zu und blicken nur selten über die Schulter zurück in ihre Herkunft, schon gar nicht nach Europa. Sie schauen aber auch kaum in die trüben Winkel der eigenen Geschichte, in denen sich zum Beispiel die vergessenen Kollateralschäden der Eroberung des ‚Wilden Westens‘ verbergen - die zerstörerische Zähmung der ‚feindlichen‘ Natur, die Ausrottung der ursprünglichen Bevölkerung...
Thoreau war ein aufmerksamer Beobachter seiner Welt - der Natur, der Menschen, der Gesellschaft und seiner selbst, und er war ein freier Geist, der sich im genauen Beschreiben dessen, was er sah und dachte, des auch in ihm wirkenden kulturellen europäischen Erbes durchaus bewusst war.
Jeder Spaziergang birgt in sich die Möglichkeit, dem Wandernden auch eine Reise nach innen zu werden, verbunden mit Erfahrungen, die das Leben verändern:
"(...)
Jeder Sonnenuntergang, den ich erlebe, inspiriert mich mit dem Wunsch, in einen Westen zu gehen, der so fern und schön ist wie der, in den die Sonne untergeht. Sie scheint täglich nach Westen zu wandern und uns verführen zu wollen, ihr zu folgen.
(...)
(...) Also schlendern wir in Richtung des Heiligen Landes, bis eines Tages die Sonne heller als je zuvor scheint, vielleicht in unsere Gedanken und Herzen hinein scheint, und unser ganzes Leben erleuchtet mit einem grossen aufweckenden Licht, so warm und heiter und golden wie an einem Flussufer im Herbst."
Zitate aus: Walking
(von Henry David Thoreau 1851 gehaltener Vortrag, der erst 1862, nach seinem Tod, als Essay veröffentlicht wurde)
© Fredi Hüberli