VIATOR 2:
ZWEI WANDERER
(2020)

"(...)
Welche Heimstatt, welche Pflicht, welche Liebe wir hinter uns liessen - wir selbst hätten es nicht zu sagen vermocht. Zwei Wanderer, nicht mehr, waren wir in diesem Augenblick, zwei Wanderer zwischen Vergessen und Nicht-Wissen, Reiter zu Fuss, Ritter des aufgegebenen Ideals. Doch darin, wie auch im gleichbleibenden Geräusch der zertretenen Blätter und im immer gleichen rauhen Geräusch des ungewissen Windes, lag der Seinsgrund für unseren Abschied und unsere Wiederkehr, denn da wir weder das Wie des Weges kannten noch das Warum, wussten wir nicht, ob wir kamen oder gingen. Und um uns versetzte mit seiner Traurigkeit das Geräusch der verfallenden Blätter, die wir nicht fallen sahen, noch wussten, wohin sie fielen, den Wald in Schlaf.
(...)"

Fernando Pessoa: Livro do Desassossego - Das Buch der Unruhe


Der Text von Fernando Pessoa erinnert mich an eine Wanderung, die ich irgendwann vor Jahren an einem feuchtgrauen Tag in die waldigen Hügel irgendwo in der Nordostschweiz unternahm. Dabei fotografierte ich - wie immer, wenn ich mich auf meinen eigenen Wegen bewege. Gegen Abend, in der Dämmerung, in die beginnende Dunkelheit der Nacht hinein war ich auf schmalen Wegen in einem Wald unterwegs, ich begegnete keiner Menschenseele ausser meiner eigenen, war auf mich selbst zurückgeworfen, unterhielt mich also mit mir selbst.
Nicht anders stelle ich mir Pessoas Wanderer vor: allein mit sich selbst wandernd, in die beginnende Dunkelheit hinein (obwohl es in Pessoas Wald "nicht dunkel" ist - "eine unbestimmte Sonne musste existieren").
Wer sind die "zwei Wanderer" in Pessoas Text? "Wir gingen getrennt-vereint auf den wild gewundenen Pfaden des Waldes. (...) Keiner wollte wissen vom anderen, und doch wäre keiner weitergegangen ohne den anderen. (...) Wer waren wir? Zwei Wesen oder zwei Formen nur eines Wesens? Wir wussten es nicht, noch fragten wir. (...)"
Je länger man wandert, umso ferner rücken Vergangenheit und Zukunft, und umso weiter dehnt sich die reine Gegenwart des eigenen Sichfortbewegens in die unbekannte, durch die zunehmende Dämmerung unwirklich werdende Landschaft, und endlich fällt alles in eins.




© Fredi Hüberli

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